Worte, die wirken

 

Leseprobe 1 "Vier Seiten für ein Halleluja"

Dackel Shylock

Belinda betrat ihr Büro und setzte sich an den Computer. Als erstes öffnete sie die Homepage ihres Moderators Martin Martinson. Sie zögerte bevor sie die Newsseite anklickte. Ihr Gefühl war richtig gewesen, sie hätte es bleiben lassen sollen. Ein Foto zeigte Martin Arm in Arm mit seiner Managerin, die ihn verliebt anlächelte.
Annabell Großmann, ihre Sekretärin, betrat das Büro und blieb in der Tür stehen.
„Gut, dass du kommst. Hast du das mit Martin und Carla gewusst?“
Annabell ging um den Schreibtisch herum und schaute Belinda über die Schulter.
„Was regst du dich auf. Ihr seid seit sechs Wochen getrennt. Du weißt wie er ist, er kann halt nicht allein sein.“
„Trotzdem, sich so schnell zu trösten, wo er mir immer versichert hat, ich sei seine große Liebe, das tut weh.“
„Darf ich dich daran erinnern, dass du Schluss gemacht hast.“
„Na und. Das spielt doch keine Rolle. Ich könnte mich nicht so schnell wieder verlieben. Oder meinst du, dass es keine Liebe ist zwischen den beiden?“
Annabell lachte auf. „Ich habe mit Martin nie ein so super Verhältnis gehabt, dass ich dir sagen kann, was er denkt. Und ehrlich, er ist überhaupt noch nie mein Typ gewesen. Deshalb bin ich aber nicht da. Unser berühmtester Schauspielerexport, Anita Vero, ist soeben eingetroffen und gleich in die Maske gegangen. Die zieht vielleicht eine Show ab. Unsere Maskenbildnerin ist ganz fertig. Nicht nur, dass sie die Haare auf große Lockenwickler eingedreht haben will, nein, sie will sie gewaschen haben und auch noch geschnitten. Unsere Maskenbildnerin war stark. Sie hat ihr cool zu verstehen gegeben, dass sie noch nie gerade geschnitten hätte. Da hat die Vero gesagt, die Haare waschen wäre perfekt. Dabei ist sie so eine berühmte Schauspielerin. Die muss doch sagenhaft viel Geld verdienen, und will umsonst die Haare geschnitten kriegen, unglaublich.“
Sherlock, der Rauhaardackel, hatte mittlerweile Annabell angestupst und sich auf den Rücken gelegt. Prompt beugte sie sich hinunter, um ihn zu streicheln.
„Du Armer, sicher bekommst du von Belinda keine Streicheleinheiten. Oh je, dein Wassernapf ist auch leer.“ Sie warf Belinda einen vorwurfsvollen Blick zu. Dann stand sie auf und griff sich eine der Literflaschen stilles Wasser, die in einem Sechserpack hinter der Tür standen.
„Annabell, stell mich bitte nicht als Hundehasserin hin. Dieses Tier ist mir völlig egal. Hätte ich meiner Großmutter nicht versprochen, auf ihn acht zu geben, wäre er in einer Hundepension.“
„Verstehe ich nicht. Ich hätte gern so einen feinen Hund. Sherlock ist klug, weißt du das?“
„Wie bitte? Ich gebe die Frage zurück. Woher weißt du das? Hat er es dir gesagt?“
„Das sieht man an seinem Blick und wenn ich mit ihm spreche, dann versteht er jedes Wort.“
Sherlock hatte sich hingesetzt und schaute sie aufmerksam an. Genau. Er verstand jedes Wort. Annabell war die Beste. Von ihr ließ er sich gern streicheln. Er hatte es nicht eilig, dass sein Frauchen wieder zurückkam. Fernsehen war seine Leidenschaft. Nie hätte er sich träumen lassen, dass er plötzlich mitten drin im Geschehen war, und nicht mehr nur vor der Glotze sitzen musste. Außer den Werbesendungen gehörten vor allem Krimis zu seinen Lieblingssendungen. Vor allem fand er es super spannend, selber auf den richtigen Täter zu tippen, was ihm schon des öfteren gelungen war. Schade, dass Belinda nur für Unterhaltung zuständig war. Als Ermittler in einem Fernsehkrimi hätte er gern mitgespielt.

Personen und Helden

Erst beobachtet der Leser die Szene durch die Augen Belindas, die sich gerade von ihrem Freund getrennt hat, damit fängt die Geschichte an. Dann wechseln wir in die Dackelperspektive, erleben, was der Hund denkt und fühlt.
Warum nicht gleich aus der Dackelperspektive? Die Überschrift verspricht uns einen Dackeldetektiv. Wäre es da nicht sinnvoll, das Geschehen wirklich aus Hundesicht zu schildern? Wie sieht ein Hund die Welt? Zunächst einmal riechen Hunde weit besser als Menschen, deren Hauptsinn die Augen sind. Das ist eine Möglichkeit, den Leser auf den Hund zu bringen. Sherlock durchschaut die Menschen nicht, er „durchschnuppert“ sie.
Außerdem ist ein Dackel klein, er sieht die Welt von ganz unten.
Doch davon spüren wir in dem Absatz nichts. „Annabell war die Beste“ ist nichtssagend, sowohl für Dackel wie auch für Menschen. Und „Fernsehen war seine Leidenschaft“. Wie fühlt sich das an, als Dackel Krimis zu sehen? Was fasziniert ihn? Genau das sollte hier geschildert werden:
Er erschnupperte den Täter lange vor Belinda. Natürlich sendete das Fernsehen nur Bilder, aber immer wenn es spannend wurde, hatte er einen Geruch in der Nase. Einen Geruch, der ihm sagte: ‚Da lügt einer.’ Oder: ‚Der hat Angst.’ Und dieser Geruch trog selten.
Es gibt Menschen, die können zu Worten Farben sehen. Synästhesie nennt sich das. Sherlock konnte Bilder riechen.
Wer einen ungewöhnlichen Protagonisten hat, sollte das nutzen. Solange Sherlock sich verhält wie irgendein beliebiger, uninteressanter Mensch, verschenkt der Autor Potenzial.
Da lohnt sich jeder Aufwand, um in die Dackelperspektive zu kommen. Legen Sie sich auf den Boden. Kriechen Sie auf allen vieren durch die Wohnung. Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich vor, wie es ist, wenn die Gerüche ein offenes Buch für Sie sind, jeder erzählt eine Geschichte. Gerüche erzählen, ob ein Mensch Angst hat oder lügt. Wie fühlt sich diese Welt an?
Und da sind wir beim Anfang. Der erste Absatz teilt uns langatmig mit, dass Belinda die Newsseite anklickt. Warum nicht aus der Sicht des Dackels erzählen? Vielleicht so:
Seine Pflegemenschin würde es nie lernen. Kaum betrat sie das Büro, schon klickte sie die Newsseite dieses Windhunds an. Natürlich, der hatte längst ein anderes Weibchen. Sherlock hatte sie gewarnt. Gleich beim ersten Treffen hatte er gerochen, dass Martin Martinson falsch war. Er hatte sich zwischen die beiden gedrängt und gebellt, aber sie wollte es nicht verstehen. Menschen!
Jetzt betrat auch die Sekretärin Annabell Großmann den Raum.
‚Hast du das gewusst?’, fragte Belinda sie und zeigte auf den Bildschirm.
Gute Geschichten leben von ihren Figuren. Hat der Autor seine Hausaufgaben gemacht, erinnern sich seine Leser noch an diese Person, wenn alles andere längst vergessen ist. Don Quichotte, Dracula, Harry Potter, Mephisto kennen selbst die, welche die Bücher, in denen sie auftauchen, nie gelesen haben.
Anfänger fangen ihre Geschichten gerne mit dem Plot an, in dem etwas passiert und schenken den Personen weniger Aufmerksamkeit. Der Plot ist nicht unwichtig, aber er hängt von den Figuren ab. Wer würde Windmühlen angreifen? James Bond mit seinem Superschlitten? Dracula, um ihnen eine Blutprobe zu entnehmen? Harry Potter, weil er sie für Voldemort hält? Nein, das kann nur Don Quichotte tun, der Ritter von der traurigen Gestalt, der sie mit Riesen verwechselt. Was passiert, hängt eng mit dem zusammen, wer es erlebt. Was jemand tut, was ihm zustößt, hängt davon ab, wer er ist. In Geschichten wie in der Realität. Nicht mal Michael Kohlhaas würde mit seinem Pferd eine Windmühle angreifen.
„Man kann nie genug über seine Figuren wissen“, wusste schon Somerset Maugham. Bei der Wahl der Figur und vor allem bei der Ausarbeitung des Protagonisten, des Helden (der keineswegs „heldenhaft“ sein muss, im Gegenteil) entscheidet sich, ob es eine gute Geschichte wird. Bevor Sie eine Idee zu einer Geschichte ausarbeiten, müssen Sie Ihren Protagonisten kennen lernen. Haben Sie ihn dann zum Leben erweckt, wird er es Ihnen danken. Dann entwickelt sich die Geschichte aus Ihrer Figur und diese wird Ihnen über viele Probleme des Plots hinweg helfen.
Aber wie kommen Sie Ihrem Helden näher?

Figuren entwickeln

Es gibt ein paar Tricks, mit denen ein Autor seine Figuren entwickeln kann.
Fragen Sie sich, welche Verletzungen Ihr Held erhalten hat. Helden sind keinesfalls unverletzlich. Siegfried hat im Drachenblut gebadet, das ihn unverletzbar machte. Ohne das Ahornblatt, das auf seine Schulter fiel, wäre er als Held einer Geschichte unbrauchbar, niemand hätte ihn besungen. Irgendwann wäre er an Altersschwäche gestorben und vergessen worden wie all die anderen, über die niemand erzählt.
Nein, ein Held soll nicht perfekt sein, ganz im Gegenteil. Er muss nicht mal sympathisch sein, schon gar nicht muss er der weiße Ritter sein. Fragen Sie sich, ob ihr Held eine Schwäche hat, eine negative Eigenschaft. Ist er ungeduldig, verprellt er deshalb Freunde, andere Menschen? Das wird ihn in Ihrer Geschichte in Schwierigkeiten bringen.
Hat er einen Wunsch oder eine Macke, der er alles andere unterordnet? Ahab hat seinen Hass auf Moby Dick, den weißen Wal. Den will er zur Strecke bringen. Diesem Wunsch opfert er alles, sein Schiff, seine Mannschaft, sogar sein Leben. Und ist dieser Kapitän Ahab, der Held von „Moby Dick“, ein netter Mensch? Wohl eher nicht.
Was ist mit Dackel Sherlock? Er liebt Krimis. Er will in einem mitspielen. Wenn in seiner Umgebung ein Mord geschieht, wird er alles daransetzen, ihn aufzuklären. Dabei hat er einen Vorteil. Er riecht besser als alle menschlichen Kommissare. Und einen Nachteil: er tut sich mit Verhören schwer. Daraus lässt sich eine Geschichte weben. Daraus kann ein Autor den Plot entwickeln.
Wenn Sie Ihrem Protagonisten dagegen zu wenig Aufmerksamkeit schenken, haben Sie einen Plot, in dem sich Figuren tummeln, von denen jeder merkt, dass sie nur um des Plots willen existieren. Pappkameraden einer Ex-und-hopp-Geschichte, die, falls sie überhaupt zu Ende gelesen wird, bereits nach einem Tag vergessen ist.
Deshalb lohnt es sich, viel Arbeit auf Ihre Protagonisten zu verwenden. Viele Anfänger scheuen das, fürchten, dass sie Zeit „verschwenden“. Dem ist nicht so. Auch wenn 80% dessen, was Sie über Ihre Hauptperson wissen, nie in der Geschichte auftaucht, ist die Arbeit dafür nicht umsonst gewesen. Denn Ihre Leser werden es merken, ob Sie Ihre Figur wirklich kennen.
Beschreiben Sie also Ihre Hauptperson. Nein, nicht im Manuskript, sondern nur als Übung, nur für sich. Oft lohnt es sich, das in der ersten Person zu tun: „Mein Name ist Dracula. Ich bin seit fünfhundert Jahren tot und immer noch nicht clean. Ich komme vom Blut nicht los …“
Oder interviewen Sie die Person. Legen Sie ein Kissen auf den Stuhl gegenüber. Bitten Sie sie Platz zu nehmen. Und dann fragen Sie sie.
„Was ist das Schlimmste, das dir bisher geschehen ist?“
„Das war damals diese Sache mit dem Schäferhund. Er hatte mich am Genick gepackt …“
Bingo! Sherlock wird Probleme haben, wenn ein Schäferhund auftaucht. Und genau das wird in der Geschichte passieren, glauben Sie mir!

Dialoge

Als nächstes fallen die Dialoge auf, die Figuren reden gestelzt, geschwätzig.
„Trotzdem, sich so schnell zu trösten, wo er mir immer versichert hat, ich sei seine große Liebe, das tut weh.“
„Darf ich dich daran erinnern, dass du Schluss gemacht hast.“
„Na und. Das spielt doch keine Rolle. Ich könnte mich nicht so schnell wieder verlieben. Oder meinst du, dass es keine Liebe ist zwischen den beiden?“
Grammatikalisch korrektes, ausformuliertes, langatmiges Deutsch.
Natürlich reden Menschen so, schweifen ab, schwätzen. Aber wollen wir das lesen? Dialoge in Romanen sind gerafft. Wie überall im Text muss man hier entscheiden, was man schreibt und was man weglässt. „Ähm“ ist das häufigste Wort in gesprochener Sprache. In Romandialogen sollte man es dennoch weglassen. Hier kommt es darauf an: Was treibt die Geschichte weiter? Was ist wirklich neu? Und vor allem: Was erzeugt Konflikte?
Versuchen wir es mal, streichen wir weg, was unnütz ist:
„Immer hat er mir versichert, ich sei seine große Liebe!“
„Du hast Schluss gemacht.“
„Meinst du, dass es keine Liebe ist zwischen den beiden?“
Jetzt kommt der Konflikt viel deutlicher heraus. Belinda hat grade ihren Liebhaber abserviert, aber abgeschlossen hat sie das Thema nicht. Sie redet es sich lediglich ein. Und in diesem Dialog wird deutlich, dass es nicht stimmt. Es trifft sie tief, dass er eine Neue hat.
Allerdings steht das so nicht im Dialog, sondern zwischen den Zeilen. Das liest der Leser aus diesem Text heraus. In Geschichten ist nicht nur wichtig, was man erzählt, sondern erst recht das, was der Autor nicht erzählt. Aus dem, was zwischen den Zeilen steht, entsteht Spannung, das hält den Leser bei der Stange: die Lücken, die er selbst beim Lesen füllen muss, füllen darf. Leser lieben Rätsel. Man sollte es ihnen nicht zu leicht machen.
Auch der Konflikt kommt in der gekürzten Fassung stärker zum Tragen. Annabell interessiert sich überhaupt nicht für Belindas Sorgen um ihren Ex. Sie hält das für albern. Hat Belinda nicht selbst Schluss gemacht? Was jammert sie nun?
Viele, viele Anfänger machen den Fehler, alles zu erzählen. Und erschlagen damit die eigene Geschichte. Der Rotstift ist der beste Freund eines Autors. Wegstreichen, was überflüssig ist.
Merke: Spannende Dialoge sind in einer Kunstsprache geschrieben. Und sie sind selten grammatikalisch korrekt.

Übung

Streichen Sie alle Dialoge der Dackelgeschichte auf das Notwendige zusammen. Prüfen Sie dann, welche Konflikte jetzt deutlicher werden. Verwenden Sie ausformulierte, grammatikalisch korrekte Sätze? Können Sie das ändern, wenn ja, wie?
Nehmen Sie sich dann einen Dialog aus einem Ihrer eigenen Text vor. Überprüfen Sie diesen nach dem gleichen Muster. Überarbeiten sie ihn. Legen Sie beide Versionen nebeneinander. Welcher ist besser? Die ursprüngliche? Oder die geänderte? Vielleicht ist das unterschiedlich, einige Stellen sind in der neuen Fassung besser, andere in der alten. So etwas kommt häufig vor. In diesem Fall mischen Sie die beiden Versionen, nehmen Sie die besten Stellen aus beiden Versionen und erstellen eine neue.


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