Worte, die wirken

 

Leseprobe 3 Wunschkonzert

War es das gewesen – das Leben? Wann findet Leben statt? Hatte sie schon gelebt? Hatte sie nicht immer darauf gewartet, dass das Leben nun endlich beginnen würde?
Immer an den nächsten Tag gedacht und für die nächste Woche, für den nächsten Monat, den nächsten Urlaub geplant. Für die Zukunft gelebt, jahrelang. Und plötzlich war die vermeintliche Lebensmitte vorüber, ganz unbemerkt war sie älter geworden. Oder war sie bereits alt? Was kam jetzt noch? Zwanzig oder dreißig Restjahre in einem alternden Körper, der ihr immer unbekannter wurde. Der ihren Kommandos nicht mehr widerspruchslos Folge leistete, der sein Eigenleben entwickelte. Plötzlich schmerzten die Knie, nach dem Joggen taten die Muskeln weh. Ein ausgedehntes spätes Abendessen ließ sie in der Nacht nicht mehr schlafen. Die Haare wurden grau, die Haut fahl und faltig. Die Knochen erzählten jeden Morgen beim Aufwachen vom nahen Alter. Auch die Seele war gealtert. Misstrauisch war sie geworden, intolerant, allem Unbekanntem gegenüber erst einmal ablehnend. Diese wunderbare, herausfordernde Welt war auf die Größe eines Reihenhauses am Stadtrand zusammengeschnurrt, die Träume von früher passten problemlos zwischen die Wände ihres Wohnzimmers.

Wo waren ihre Pläne geblieben? Ihre Wünsche, ihre Hoffnungen? Was hatte sie davon wahr machen können? War ihr Lebensentwurf gelungen? Hatte sie denn so etwas überhaupt je gehabt – oder hatte sie ganz einfach darauf los gelebt, das getan, was man von einem Mädchen, einer Frau erwartet: Beruf erlernt, Mann geheiratet, Kinder aufgezogen, Vater beerdigt. Hatte einfach alles auf sich zukommen lassen. Wie ein Baum nicht über Regen oder Sonne entscheiden kann, sondern darauf wartet, was an Tropfen oder Sonnenstrahlen kommt. Ein durchschnittliches Leben, keine besondere Karriere, keine besonderen Kinder, keine besonderen Höhepunkte. Kein besonderes Leben.


Tiefer schürfen


Was fällt an diesem Text als erstes auf? Eine Klage über das Alter, von einer Frau, Mutter. Nichts besonderes, das haben wir schon hundertmal gehört. Klischee, autobiografischer Middlifecrisis-Kitsch, würde ein Kulturredakteur sagen.Aber wir wollen ja Texte hier nicht literarisch einordnen, nicht wissen, was ein Kritiker der Zeit oder FAZ dazu sagen würde. Hier geht es nicht um die Frage: Ist der Text literarisch wertvoll, sondern darum, ihn besser zu machen. Kann man ihn besser machen?

Viele würden behaupten: Nein. In die Tonne damit. Hausfrauenlyrik.
Doch, behaupte ich, man kann. Jeden Text kann man besser machen. Dadurch wird er zwar nicht im Literaturhimmel landen, aber lesbarer. Und bei dem Versuch lässt sich eine Menge lernen.
Der Text ist mit seiner Klage sehr allgemein. So oder ähnlich können das Tausende von Hausfrauen reden – und übrigens auch berufstätige Männer: „Wo waren ihre Pläne geblieben?“ Viel zu allgemein. Zahlreiche andere Sätze im Text sind ebenso allgemein.
In Geschichten ist das tödlich. Hier interessiert das Besondere, das Einmalige, das Konkrete, das, was ein Bild vor uns entstehen lässt.
Wenn ein Text bestimmte Elemente im Übermaß verwendet, gibt es ein einfaches Mittel: Alle (ja, alle!) Stellen, wo es gebraucht wird, streichen. Wie schaut der Text nackt, roh aus, ohne seine allgemeinen Aussagen, Fragen?
War es das gewesen – das Leben? Plötzlich schmerzten die Knie, nach dem Joggen taten die Muskeln weh. Ein spätes Abendessen ließ sie in der Nacht nicht mehr schlafen. Die Haare wurden grau, die Haut fahl und faltig. Die Knochen erzählten jeden Morgen beim Aufwachen vom nahen Alter. Misstrauisch war sie geworden, intolerant. Die Träume von früher passten problemlos zwischen die Wände ihres Wohnzimmers.
Mann geheiratet, Kinder aufgezogen, Vater beerdigt. Hatte einfach alles auf sich zukommen lassen. Wie ein Baum nicht über Regen oder Sonne entscheiden kann, sondern darauf wartet, was an Tropfen oder Sonnenstrahlen kommt.
Das ist jetzt natürlich sehr karg und noch immer nicht ideal. Aber sehen wir uns nochmals die Frage an, die der Autor im Ursprungstext gestellt hat. Wo sind meine Träume geblieben?
Welche Träume? Genau das fehlt hier. Hat sie früher gezeichnet, von einer grafischen Karriere geträumt?
Gezeichnet hatte sie lange nicht mehr. Die Staffelei träumte ganz hinten in der Garage von besseren Tagen, als sie wenigstens manchmal noch benutzt worden war …
Oder von Kindern geträumt, die sie zur glücklichen Mutter machen würden und nun:
Längst schon hatte sie es aufgegeben, Jan und Laura zu bitten, das Geschirr in die Spülmaschine einzuräumen …
Oder gibt es ein Ereignis, das vor der eigentlichen Geschichte liegt und deshalb im Prolog Platz finden kann?
Sie drehte den Brief in der Hand, wollte ihn erst nicht öffnen. Das schlechte Gewissen plagte sie, wie viele Jahre hatte sie sich bei Gabi nicht mehr gemeldet? Sechs? Oder waren es doch schon acht? …
Was ist an meiner Figur besonderes, was hat sie erlebt, das sie von Tausenden anderen unterscheidet, die auch ihre Träume begraben mussten?
Welche Träume sind hier begraben worden? Der zweite Schritt bei diesem Text wäre also, die allgemeinen Fragen mit Inhalt, mit Ereignissen, Bildern zu füllen. Nur so entsteht eine Geschichte. Und welche Träume es sind, die die Figur begraben hat, hängt von ihrem Charakter ab. Merken Sie etwas? Das hatten wir schon im Kapitel „Personen“ behandelt.
Um die konkreten Träume zu kennen, müssen wir also die Person kennen und zwar gut, sehr gut. Wir müssen mit ihnen einschlafen und wieder aufwachen. Dann wissen wir auch um ihre Träume und können diese zeigen.
Gelingt das, dann – aber nur dann! – darf es auch ruhig einmal ein allgemeiner Satz sein, der kommentiert. Denn beim Schreiben ist es nicht anders als beim Kochen. Eine Prise Knoblauch würzt das Essen. Aber wenn es zur Hälfte aus Knoblauch besteht, wird es ungenießbar.
„War es das gewesen – das Leben?“, halte ich für einen Satz, der dem verbesserten Text durchaus vorangestellt werden kann, ein guter erster Satz, falls es danach konkret wird.
Die Fragen im Ursprungstext sind ja keineswegs unsinnig. Ganz im Gegenteil. Sie führen uns zu dem, was wichtig ist. Nur sollte man sie deshalb nicht in den Text schreiben. Sondern sich überlegen, wie die Antworten aussehen, welche konkreten Bilder sich dazu finden. Und die, aber nur die, gehören in die Geschichte.
Das gilt eben auch für Prologe. Ein Prolog kann den Leser in die Geschichte einführen. Er ist aber kein Platz für allgemeine, banale Aussagen. Dennoch können sich aus diesen spannende Texte entwickeln – man muss nur tiefer schürfen, von der Oberfläche zum Eigentlichen kommen.
Jeder hat eine Meinung vom Leben, vom Alter, was erstrebenswert ist und was nicht. Müssen wir das lesen? Meist nicht, vor allem nicht, wenn das nur zu allgemeinen Sätzen führt, so spannend wie das Wort zum Sonntag.
Ihr Held sollte einen konkreten Wunsch haben. Ahab wollte nicht die Menschheit vor gefährlichen Tieren schützen oder die Schifffahrt sicherer machen. Er wollte sich an Moby Dick rächen.
Sind Allerweltsweisheiten im Text also nutzlos?
Nein. Sie sind aber Steine, Schutt, die über der eigentlichen Geschichte liegen wie Schutt über den Ruinen antiker Städte. Sie verdecken das, was wir erzählen wollen. Um an unsere Geschichten heran zu kommen, müssen wir diesen Schutt beiseite räumen. Vorsichtig, damit wir nicht das zerstören, was darunter liegt.
„Geschichten sind keine Souvenir-T-Shirts oder Gameboys. Geschichten sind Überbleibsel einer noch unentdeckten, seit jeher bestehenden Welt. Die Aufgabe des Schriftstellers ist es, jede Geschichte mit den Instrumenten seines Werkzeugkastens so unbeschädigt wie möglich aus dem Boden zu heben. […] Um dies so gut wie möglich zu machen, muss der Spaten feinerem Werkzeug weichen: Druckluft, Handmeißel, vielleicht sogar einer Zahnbürste.“ (Stephen King).
Zurück zu unserem Text.
„So ist eben das Leben“, ist nicht sonderlich originell. Es ergibt auch keine Geschichte. Aber wie ist denn das Leben für die, die solch einen Satz äußert? Geprägt von Verlust, und da war der Tod der Mutter, als sie zehn war? Voller Sex und Spaß und dieser Kellner, wie er lächelte? Harte Arbeit, verdienter Erfolg und die Blicke, die einem die Untergebenen zuwerfen?
Allgemeine Sätze einfach nur ersatzlos zu streichen, ist manchmal ein Fehler. Viel wirkungsvoller, sich zu fragen, was unter dem allgemeinen Blah-Blah verborgen liegt. Und irgendwann, wenn Sie vorsichtig den Schutt beiseite geräumt haben, entdecken Sie ein Mosaik, einen Charakter mit einem alles beherrschenden Wunsch. Don Quichotte, der ein Ritter sein will. Faust, der wissen will, was die Welt zusammenhält. Emil und die Detektive, die das gestohlene Geld von Emils Mutter wiederholen wollen.
Das ist es, was Ihrer Geschichte Leben verleiht.